Kampf dem Knoten im Arm

Jürgen Albers, der Herausgeber des Magazins “Au fer“, das die Berichterstattung über Boule und Pétanque in Deutschland lange Zeit geprägt hat, hat in den 90er Jahren ein sehr schönes Essay über den „Knoten im Arm“ veröffentlicht. Beschrieben hat Albers in diesem Text eine Situation, die jeder ambitionierte Boule-Spieler wahrscheinlich schon einmal erlebt hat: wenn plötzlich „gar nichts mehr geht“. Eine Blockade der „Augen-Hand-Koordination“, die beim Pétanque für Fehlschüsse und verlegte Kugeln sorgt.

Wenn man die einzelnen Techniken des Legens und Schießens beherrscht, trifft die folgende Feststellung in der Regel zu: „Eine Partie Pétanque wird zu 90% im Kopf gewonnen!“ Es ist das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Konzentration und Zerstreuung, zwischen der Euphorie, die einer genialen Kugel folgt und der Frustration über das genaue Gegenteil. Und hier spielt nicht nur das persönliche Befinden eine Rolle, sondern auch die Beziehung, die Spielerinnen und Spieler in einer Mannschaft zueinander haben. Die mentale Disposition, die Fähigkeit der Anpassung und der Anspruch an den Verlauf der Partie sollten bei einzelnen Team-Mitgliedern nicht zu weit auseinander liegen. Ein Spieler, der mit dem Vorsatz antritt, eine Partie gewinnen zu wollen, wird mit einem Spieler im eigenen Team, dessen oberstes Ziel es ist, die Partie nicht zu verlieren, nur schwer erfolgreich sein. Zu weit liegen bei beiden die entsprechenden Taktiken auseinander.

Eben weil insbesondere die Spieler und Spielerinnen des DPV-Kaders die Techniken des Legens und Schießens in besonderer Weise beherrschen, drehte sich beim ersten Workshop unserer Pétanque-Leistungssportler 2019 im saarländischen Gersweiler alles um den „Kopf“ und darum, die passenden „Köpfe“ zu erfolgreichen Mannschaften zusammenzustellen.

Eine Auswahl der Spielerinnen und Spieler des DPV-Kaders 2019 mit dem Trainerteam.

Mit dieser Zielsetzung im eigenen Kopf, hatte Bundestrainer Philipp Zuschlag bereits über einen längeren Zeitraum nach Co-Trainern gesucht, die den Herausforderungen, die mit einem solchen Richtungswechsel in der Qualifizierung unserer Nationalmannschaften einhergehen, am ehesten gerecht werden  – und er hat sie gefunden.

Co-Trainer Frank Lückert aus dem hessischen Rüsselsheim bringt schon als Sportwart in seinem Landesverband eine Menge Pétanque-Erfahrung jenseits des eigenen Spiels mit. Neben der Welt der Eisenkugeln hat Frank allerdings noch eine ganz andere Qualifikation: er ist (wenn auch ebenfalls als Hobby) professioneller Artist. Und wer bei dem Wort „Artist“ direkt an einen Zirkus denken muss, liegt bei Frank Lückert genau richtig, die Manege war über mehr als zwanzig Jahre seine zweite Heimat.

Nun, welche besonderen Fähigkeiten kann ein Star aus der Manege einem Nationalspieler des DPV vermitteln? Da ist zum einen das Zauberwort „standardisierte Bewegungen“. Wer mit seinem Körper wie auch immer geartete Kunststücke vorführt, hat – spätestens vor dem großen Publikum – keine Gelegenheit mehr, über das nachzudenken, was er da gerade tut. Und hier ist auch schon das zweite Stichwort gefallen: „Publikum“. Es ist die eine Sache, ob ich mit zwei Sportsfreunden zu einem Dorf-Turnier fahre, um mir das Preisgeld für den ersten Platz abzuholen – und eine völlig andere Herausforderung, wenn ich vor großer Kulisse in einer Halle für mein Land antrete. Letzteres darüber hinaus noch in dem Wissen, dass vor den heimischen Monitoren in der Spitze mehr als 500 Leute ebenfalls gespannt beobachten, ob und wie erfolgreich ich bin. Es erübrigt sich, weiter darauf einzugehen, welche Beiträge Frank Lückert mit seiner speziellen Qualifikation zur Ausbildung der Deutschen Nationalmannschaften leisten soll.

Nun fällt es auch nicht schwer, den Bogen zum zweiten Co-Trainer zu schlagen: Martin Peter aus Bensheim. Der leidenschaftliche und erfahrene Boulespieler im Landesverband Hessen folgt beruflich ebenfalls einer Profession, die die Ziele einer mentalen Stabilität und gelungenen Team-Bildung in den deutschen Nationalmannschaften perfekt unterstützen. Martin leitet mit einer Partnerin das „Institut für musikalisches Lernen“ in Bensheim. Auch er kennt als staatlich anerkannter Berufsmusiker und Pädagoge in seinem Bereich die Bedeutung von „standardisierten Bewegungen“. Wer als Pianist einen kurzen Moment überlegen muss, welche Tasten jetzt in welcher Kombination als nächstes zu drücken sind, sorgt nicht nur optisch, sondern vor allen Dingen auch akustisch für einen wenig glänzenden Auftritt. Auch „Lampenfieber“ ist Martin nicht fremd, insbesondere in seiner Arbeit als Coach für Bands im Bereich Populärmusik als auch für Musiker der Klassik. Er ist außerdem Feldenkraislehrer, eine Qualifikation, die er auch jenseits der schönen Klänge zum Einsatz bringt. Mit einer Abhandlung zu letzterer Technik wollen wir den Rahmen dieser Veröffentlichung nicht sprengen. Wen es interessiert, der oder die möge den Begriff bei Google eingeben – und sollte es nicht versäumen, dort auch direkt nach „Neuronaler Plastizität“ zu fragen.

Abgerundet wird das Trainerteam rund um Philipp Zuschlag durch den Präsidenten des Bayerischen Pétanque-Verbandes, Sebastian Lechner und den Münchener Andreas Kreile. Die beiden Boule-Urgesteine werden dafür sorgen, dass das Mental-Training kein Übergewicht bekommt. Kreile spielt seit 1991 und hat in dieser Zeit sämtliche bayerischen Titel mindestens einmal gewonnen – Lechner ist ein Boule-Kosmopolit, bei dem die Frage, in welchen Ländern er noch nicht gespielt hat, schneller beantwortet ist als umgekehrt.

Die „Marschrichtung“, die Philipp Zuschlag in der Kaderarbeit des DPV mit dem Präsidium abgestimmt hat und nun durchsetzt ist klar: Kampf dem Knoten im Arm.

In diesem ersten Workshop unter der neuen Überschrift ging es insbesondere darum, dass sich die Coaches und Spieler/innen einander vorstellen. Sicher kannten sich schon viele über eine lange Zeit, aber einige eben auch nicht. So wurde auch nicht nur spezifische Fragen rund um Technik und Taktik gestellt, sondern zum Beispiel auch solche, wie: „Hast Du schon mal eine Partie vor dem Ende abgebrochen – und wenn ja, warum?“, „Auf was freust Du Dich am Wochenende?“ oder „In welcher Situation hast Du beim Boule das letzte Mal richtig herzlich gelacht?“

Nach dieser Runde aus Gesprächen und Theorie ging es am Samstag-Morgen in die Praxis. Ein erstes Training der Spieler und Spielerinnen in der Halle wurde von Videomitschnitten in Zeitlupe begleitet, die anschließend besprochen und bewertet wurden. Es war erfreulich, dass sich selbst „alte Hasen und Häsinnen“ auf die Vorschläge der Trainer einließen, woran sie grundsätzlich noch einmal arbeiten sollten. Nach der Mittagspause ging es dann mit einem kleinen Turnier weiter, im Verlaufe dessen Mannschaftsaufstellungen probiert und das taktische Verhalten der einzelnen Teams beobachtet und zur späteren Besprechung dokumentiert wurde.

Der Sonntag war wiederum geprägt von Einzelgesprächen, die ohne Zeitdruck und sehr intensiv geführt wurden. Hier ging es nicht nur um die Erwartungshaltung des DPV an die Leistungsstärke seiner Nationalmannschaften, sondern auch darum, was denn die Spielerinnen und Spieler an Vorschlägen und Wünschen in Richtung des Trainer-Teams loswerden wollten. In einer Abschlussrunde wurde der Workshop als absolute Bereicherung in der Entwicklung des DPV-Kade
rs bewertet.

Der Kaderspieler Jannik Schaake hat kurz nach dem Wochenende bereits aus erster Hand einen lesenswerten Artikel auf seinem Info-Portal www.petanque-aktuell.de veröffentlicht – ein Klick auf den Link lohnt sich.

Informationen zum Espoir-Kader und Jugend-Kader, die ebenfalls ihre ersten Treffen 2019 absolviert haben, folgen in Kürze.